VdM #11 – Made to Measure
besprochen von Anna Vollersen
Daten, die eine Geschichte Erzählen
Tag für Tag gewähren wir Plattformen wie Facebook und Google Einblicke in unser Leben, unser Denken und Handeln – bis hin zu unseren intimsten Geheimnissen. Mithilfe ausgeklügelter Algorithmen werden aus diesen Daten Persönlichkeitsprofile erstellt, um maßgeschneiderte und hochmanipulative Online-Werbung zu schalten. Das Projekt „Made to Measure“ der Laokoon Gruppe zeigt eindrücklich, welche Auswirkungen unser digitale Fußabdruck haben kann. In Zusammenarbeit mit zahlreichen Partnerinnen und Partnern sowie dem Studio NAND entstand ein beeindruckendes interaktives Storytelling, das die Bedeutung des Datenschutzes in der digitalen Welt vermittelt. Wir haben das Projekt als unsere Visualisierung des Monats Mai ausgewählt.
Das Datenexperiment – Made to Measure
Ist es möglich nur anhand persönlicher Online-Daten das Leben eines Menschen zu rekonstruieren, ohne diesem je begegnet zu sein? Dieser Frage hat sich die Gruppe Laokoon aus Berlin gewidmet und eine investigative Recherche betrieben. Nach einem europaweiten Aufruf im Sommer 2020 erhielt das Team, bestehend aus Hans Block, Moritz Riesewick und Cosima Terrasse, mehr als 100 anonymisierte Google-Datensätze. Den Datensatz #25 wählten sie für ihr Projekt aus.
Anschließend analysierte Laokoon in enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Stanford Media and Personality Lab diesen ausgewählten Datensatz und erstellte ein Persönlichkeitsprofil. Mit Hilfe einer Datenanalystin und einer Schauspielerin rekonstruierte das Team aus mehr als 100.000 Datenpunkten des Datensatzes fünf Jahre des Lebens der Person hinter dem Datensatz #25 – durch ein Schauspiel von diversen Momenten vor unterschiedlichen originalgetreuen Kulissen. Im Januar 2021 kam es schließlich zur Begegnung der Versuchsperson und ihrer aus dem Datensatz hervorgegangenen „Doppelgängerin“. Keiner ahnte zuvor, wie emotional diese Vorstellung werden könnte.
Ein Transmediales Erlebnis – Wie Interpretierst Du diese Daten?
Auf den ersten Blick scheint es sich um ein 37-minütiges Video zu handeln, welches die rekonstruierten Szenen aus dem Leben der Versuchsperson, ihre Begegnung mit der „Doppelgängerin“ und deren Dialoge wiedergibt. Doch ich habe unterschätzt, wie fesselnd die audiovisuelle Erzählung ist. So unterstützen nicht nur Echtzeit-Datenvisualisierungen der Suchanfragen der Versuchsperson das Video. Vielmehr haben interaktive Elemente auch mich dazu animiert, Fragen zu beantworten und selbst in die Datensätze einzutauchen. Dies hat mich aktiv in die Erzählung miteinbezogen.
Für die Umsetzung der Website war das Studio NAND verantwortlich war. Es hat einen Videoplayer entwickelt, der nahtlose Übergänge zwischen den Videowiedergaben und den interaktiven Elementen ermöglicht. Auch soll er den Daten-Fußabdruck der Nutzenden minimieren, was bei der Botschaft des Experiments ein zentraler Aspekt ist. Es ist ihnen gelungen, ein Format zu schaffen, das die Zuschauenden integriert und gleichzeitig zum Mitfiebern, Analysieren und Spekulieren bringt. Doch das ist noch nicht alles – sie haben sich am Ende selbst übertroffen.
Direkt zu Made to Measure geht es hier.
+++Achtung, Spoilerwarnung+++
Im Höhepunkt der Geschichte beginnt das Video zu stocken. Der Bildschirm flackert und die Stimmen werden abgehackt. Es fühlt sich an, als würde mein Endgerät von einer unbekannten Macht übernommen. Ich bin erschrocken darüber, was als Nächstes passieren wird. Plötzlich wird der Bildschirm schwarz und eine Computerstimme spricht zu mir: sie klingt wie die der Versuchsperson, aber es ist ihr digitaler Klon. Der Klon begrüßt mich und erkennt sogar die Stadt, in der ich mich befinde.
Was Wir Preisgeben – Analyse einer Künstlichen Intelligenz
Was ich nicht wusste? Dass ich selbst während meiner Interaktion mit der Website als Datenquelle fungierte! Während ich das Video ansah, wurde mein Geräteprofil und Verhalten analysiert: Wie oft habe ich die Maus bewegt? Wie lange habe ich gebraucht, um die Fragen zu beantworten? Habe ich bestimmte Szenen oder Fragen übersprungen? All diese Daten wurden gesammelt, um ein Persönlichkeitsprofil von mir zu erstellen, das mir der digitale Klon am Ende präsentiert.
Wenn die Botschaft des Experiments noch nicht klar genug war, sollte spätestens jetzt die Auswertung durch die künstliche Intelligenz für Bewusstsein sorgen. Eine düstere und bedrohliche Stimmung bleibt zurück. Aber es ist eine meisterhafte Umsetzung eines faszinierenden Experiments, das durch starke Emotionen Bewusstsein für den Umgang mit persönlichen Daten und die Wahrung der Privatsphäre in der digitalen Welt schafft.
Über die Visualisierung des Monats
In der Serie „Visualisierung des Monats“ stellen wir jeweils am zweiten Mittwoch des Monats eine herausragende Visualisierung vor. Ein Kriterium bei der Auswahl ist, inwieweit diese aus Design-Perspektive ästhetisch und emotional ansprechend ist. Außerdem schauen wir uns den Informationsgehalt an. Dazu gehört auch, wie die Nutzerinnen und Nutzer der Visualisierung dabei unterstützt werden, komplexe Zusammenhänge besser zu verstehen. Die Auswahl erfolgt innerhalb des KielSCN-Teams und bezieht das Fachwissen aus den Bereichen Informationdesign, Bildungswissenschaften und Emotionsforschung sowie der Wissenschaftskommunikationsforschung ein.