VdM #4 – XR Tumor Evolution Project
Eintauchen in die Krebsforschung: Das XR Tumor Evolution Project
Bei unserem Besuch auf dem diesjährigen Ars Electronica Festival in Linz haben wir attraktive und inspirierende Ausstellungen gesehen. Dabei sind uns viele eindrucksvolle Exponate in Erinnerung geblieben. Eins von ihnen ist das XR Tumor Evolution Project (XRTEP) – unsere Wahl für die Visualisierung des Monats #4.
Darstellung multimodaler Daten – eine Herausforderung
Seinen Anfang nahm das Projekt mit der Entscheidung einer Patientin: Sie wollte ihr mit einem inoperablen Krebs befallenes Gewebe für die Forschung zu spenden. Durch die medizinische Begleitung konnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über die Jahre zahlreiche Informationen zum Wachstum des Krebses sowie über die Verteilung im Körper der Patientin sammeln. Begonnen hat die Dokumentation mit der Entdeckung eines Tumors in der Lunge. Zum Zeitpunkt des Todes waren es schließlich 89 verschiedene Tumore, die das Forschungsteam alle sequenziert hat. Dieser Umfang sowie die Komplexität der gewonnenen Informationen stellten nun neue Herausforderungen an die Darstellung der Daten.
Das Produkt einer interdisziplinären Zusammenarbeit
Ein interdisziplinäres Team aus Mitarbeitenden des arc/sec Lab an der School of Architecture and Planning, des NETwork! an der Fakultät für Medizin- und Gesundheitswissenschaften und dem Centre for eResearch der Universität von Auckland hat sich der Herausforderung gestellt. So ist in enger Zusammenarbeit mit den Medizinerinnen und Medizinern eine immersive Arena entstanden.
Im Zentrum steht hierbei ein interaktives, holografisches Modell des Skeletts, der Organe und der Tumore der Patientin. Die dazugehörigen Daten sind um das Modell herum in drei konzentrischen Schichten angeordnet. Dabei nimmt die disziplinäre Spezifität der Daten jeweils mit der Entfernung vom Modell zu. So sind an verschiedenen Punkten im Raum Momente mit intra- und interdisziplinärem Fokus möglich. Durch die HoloLens tauchen die Benutzerinnen und Benutzer der Anwendung in diese virtuell erweiterte Realität ein und interagieren gleichzeitig mit dem Modell.
Immersive Technologie – Menschliche Interaktion im Mittelpunkt
Bei der Realisierung des Projekts hat das Team aus Auckland auf die neuste und komplexeste immersive Technologie zurückgegriffen: die Extended Reality. Sie ermöglicht eine Erweiterung der realen Umgebung mit virtuellen Objekten und verknüpft diese zu einer neuen Realität. Die Nutzenden können dabei mit der digitalen Welt interagieren. Sie können Organe aus dem Skelett greifen und die darin befindlichen Tumore so näher betrachten. Durch das Verschieben einer Zeitskala können die Benutzerinnen und Benutzer sehen, wie Tumore wachsen, schrumpfen oder sich im Laufe der Zeit ausbreiten.
Immersive Technologien bieten also nicht nur die Möglichkeit einer äußerst realistischen Darstellung von Objekten und Daten im virtuellen Raum. Vielmehr ermöglichen sie es den Benutzerinnen und Benutzern, eine virtuelle Umgebung zu betreten und ein Teil von ihr zu werden. Aus der Sicht der Nutzenden und ihrer Erfahrung ist dies vermutlich noch wichtiger, als die überaus realistische Darstellung der Inhalte. Das Gefühl, in eine Umgebung einzutauchen, wird als Immersion bezeichnet. Es kann sehr wirkungsvoll sein, um die Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Inhalt durch das Erzeugen von Ehrfurcht und Faszination zu fördern.
Grundvoraussetzungen, um das volle Potenzial der Immersion auszuschöpfen und die Nutzenden an die Inhalte zu binden, sind jedoch eine flüssige Interaktion mit dem Medium und eine hohe Benutzerfreundlichkeit. Mit anderen Worten: eine hohe Qualität der Nutzererfahrung. Darauf zielt auch unsere Arbeit im KielSCN. Wir wollen verstehen, wie Emotionen und Benutzerfreundlichkeit in der Benutzererfahrung zusammenhängen. Dazu untersuchen wir in-situ-Prozesse, die zeigen, auf welche Weise und wie erfolgreich Individuen Visualisierungen bei der Erkundung wissenschaftlicher Informationen nutzen.
Anwendung aktuell noch auf die Aus- und Weiterbildung im medizinischen Bereich beschränkt
Aktuell liegen die unmittelbaren Anwendungen dieses Forschungsprojekts in der Aus- und Weiterbildung von Medizinerinnen und Medizinern. Vielversprechendes Potential sieht das KielSCN beispielsweise aber auch beim Einsatz des XRTEP, oder ähnlich gelagerten Projekten, in nicht-wissenschaftlichen Zielgruppen. Voraussetzung hierfür sind jedoch die Weiterentwicklung der Designfeatures sowie der Benutzerfreundlichkeit. Auch ein stärkeres an die Hand-Nehmen des Nutzenden bei der Erkundung erscheint vielversprechend, um den Kreis der Nutzerinnen und Nutzer auf eine breite Zielgruppe zu erweitern. Die Einbettung in ein Narrativ oder Storytelling könnten dies beispielsweise befördern.
XRTEP erleichtert den Zugang zur Krebsforschung und zu abstrakten Daten
Grundsätzlich stellt das XRTEP eine beispielhafte Umsetzung dar. Es bietet ein neuartiges und einzigartiges Erlebnis sich mit den Daten der Krebsforschung auseinanderzusetzen. So generieren die Entwicklerinnen und Entwickler nicht nur Aufmerksamkeit, sondern erleichtern gleichzeitig den Zugang zu abstrakten genomischen Daten und den Zusammenhängen eines bedrückenden Themas.
Mehr über das XR Tumor Evolution Project erfahren
Detaillierte Hintergrundinformationen in englischer Sprache gibt es auf der Projekt-Webseite.
Über die Visualisierung des Monats
In der Serie „Visualisierung des Monats“ stellen wir jeweils am zweiten Mittwoch des Monats eine herausragende Visualisierung vor. Ein Kriterium bei der Auswahl ist, inwieweit diese aus Design-Perspektive ästhetisch und emotional ansprechend ist. Außerdem schauen wir uns den Informationsgehalt an. Dazu gehört auch, wie die Nutzerinnen und Nutzer der Visualisierung dabei unterstützt werden, komplexe Zusammenhänge besser zu verstehen. Die Auswahl erfolgt innerhalb des KielSCN-Teams und bezieht das Fachwissen aus den Bereichen Informationdesign, Bildungswissenschaften und Emotionsforschung sowie der Wissenschaftskommunikationsforschung ein.